Ein Bericht zur Lage in Sierra Leone

 

(Bericht von Sebastian Wenz, veröffentlicht am 10. März 2017)

 

In deutschen Medien hört man allerlei Nachrichten über Afrika – einmal abgesehen von Nordafrika, wo im Februar die lybische Stadt Sirte vom Islamischen Staat (IS) befreit wurde und Libyen in der Flüchtlingsdebatte jeher einen zentralen Punkt einnimmt, wurde Ende Januar der amtierende Präsident von Gambia, Yahya Jammeh, nach 22 Jahren durch demokratisch legitimierte Wahlen vom Volk abgewählt. Ganz ohne Widerstand räumte Jammeh seinen Platz allerdings nicht. Erst der Einmarsch senegalesischer und anderer westafrikanischer Truppen mit dem Mandat der ECOWAS (Economic Community of West African States) erhöhte den Druck auf Jammeh so sehr, dass er am 21. Januar 2017 ins Exil ging. Zunächst sah es so aus, als würde Jammeh das Feld wie vorgesehen räumen, was beinahe einer Sensation gleichgekommen wäre. Denn erstens ist es erfahrungsgemäß ungewöhnlich, dass Diktatoren, die jahrelang an der Macht sind, durch demokratische Wahlen überhaupt abgewählt werden (Stichwort: Wahlfälschungen). Zum Zweiten hat die Vergangenheit gezeigt, dass viele Machthaber ihre Niederlage nicht eingestehen wollen und sich mit aller Gewalt an der Macht klammern (so im Jahr 2011 in der Elfenbeinküste, wo Laurent Gbagbo erst auf hohen Druck der internationalen Gemeinschaft seine Wahlniederlage eingestand und Platz für den derzeitigen Präsidenten Alassane Ouattara machte).

 

In der Dem. Rep. Kongo hat es der aktuelle Staatspräsident Joseph Kabila geschafft, die Organisation demokratischer Wahlen so lange zu verzögern, dass der Wahltermin im November 2016 nicht eingehalten werden konnte (obgleich dies in einem Staat mit extrem schlechter Infrastruktur und der Tatsache, dass selbst die größten Städte im Land nicht einmal mit Straßen verbunden sind, in der Tat eine unglaublich große Herausforderung ist). Eigentlich darf Joseph Kabila für eine dritte Amtszeit gar nicht mehr antreten. Doch jegliche Kritik und wirtschaftliche Sanktionen vonseiten der internationalen Gemeinschaft ignoriert der Machthaber – zum Leid des seit langem leidtragenden Volkes. Hinzu kommt, dass im Februar der wichtigste Oppositionsführer, Étienne Tshisekedi, verstarb. Noch ist unklar, ob diese große Lücke geschlossen werden kann.

 

Ghana galt lange als Hoffnungsträger in Westafrika. Das Land sollte zum Paradebeispiel im Umgang mit seinen unzähligen natürlichen Ressourcen (Gold, Kakao, Diamanten und Aluminium) werden und somit als Vorbildfunktion für andere rohstoffreiche Staaten in Afrika dienen (Nigeria, Angola, Kongo etc.). Seitdem Ghana jedoch Erdöl fördert, ist der Wirtschaftaufschwung, entgegen aller Erwartungen, ins Stocken geraten. Es scheint, als habe der Erdölreichtum der ghanaischen Regierung den Kopf verdreht. Am 7. Dezember 2016 waren Präsidentschaftswahlen. Immerhin verlief der Machtwechsel ohne Zwischenfälle, obwohl der Oppositionskandidat Nana Akufo-Addo die Wahlen für sich entschied.

 

Um Sierra Leone, also um das afrikanischen Land, in dem wir uns seit nun über fünf Jahren für das Waisenhaus Madina Evangelical Children’s Home engagieren, ist es in deutschen Medien seit der schlimmen Ebola-Epidemie dagegen sehr ruhig geworden. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass es aus dem Land nichts zu berichten gäbe. Gut, die Ebola-Epidemie ist seit November 2015 endgültig vorbei. Aber erholt hat sich das Land davon noch lange nicht. Da es kaum möglich ist, Nachrichten aus Sierra Leone in deutschen Medien nachzulesen, haben wir uns dazu entschlossen, diesen Bericht zur Lage in Sierra Leone zu verfassen und zur Verfügung zu stellen. Schließlich haben politische und ökonomische Entwicklungen in Sierra Leone auch Einfluss auf die Arbeit unseres Fördervereins.

 

Zunächst einmal ist anzumerken, dass in genau einem Jahr, nämlich am 7. März 2018, Präsidentschaftswahlen anstehen. Der amtierende Präsident, Ernest Bai Koroma, darf nicht zu einer dritten Amtszeit antreten und wie es scheint, ist dies auch nicht seine Intension. Im Hintergrund sammeln sich in beiden großen Parteien APC (All People’s Congress) und SLPP (Sierra Leone People’s Party) bereits die Kandidaten. Kurzum: Das Jahr 2017 wird ganz im Zeichen der Präsidentschaftswahlen stehen.

 

Die ökonomische Lage in Sierra Leone ist anhaltend schlecht. Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel verdeutlichen: Im November 2015 habe ich aus Mitteln des Fördervereins Reis gekauft und pro Sack Le 120.000 bezahlt. Im Februar 2016 habe ich im gleichen Geschäft schon Le 180.000 bezahlt. Heute kostet der Sack Reis Le 230.000. Für die lokale Bevölkerung bedeutet dies einen Anstieg des Preises für Reis um fast 100%! Nochmals: Reis ist DAS Grundnahrungsmittel in Sierra Leone. Es gibt kaum eine Mahlzeit ohne Reis. Die Frage ist, wo dieser extreme Anstieg herkommt? Zum einen hat dies mit dem Verfall der nationalen Währung zu tun. Im November 2015 kostete ein Euro etwa 6.000 Leone. Im Februar 2016 bereits 6.800 Leone und im November 2016 gar 8.000 Leone. Heute hat sich der Wechselkurs bei etwa 7.600 Leone für einen Euro eingependelt. Rechnen wir die Preise für Reis zu den oben genannten Zeiträumen einmal um, so erfahren wir die Kosten pro Sack Reis für uns als Förderverein:

 

November 2015:    Le 120.000 / Le 6.000 = EUR 20,00

Februar 2016:       Le 180.000 / Le 6.800 = EUR 26,47

Februar 2017:       Le 230.000 / Le 7.600 = EUR 30,26

 

Für uns bedeutet dies also einen Anstieg des Preises für einen Sack Reis um 50% innerhalb eines Jahres (im Vergleich zu 100% für die lokale Bevölkerung). Mit dem Wechselkurs alleine kann der Anstieg also nicht erklärt werden. Aus meiner Sicht gibt es zwei weitere Gründe, wie der enorme Anstieg des Preises für Reis zu erklären ist:

 

  1.     Höhere Importzölle: Der sierra-leonische Staat ist quasi bankrott. Im Jahr 2016 wurde mit allen Mitteln versucht, zum einen die Einkommensseite zu erhöhen (durch höhere Importzölle, denn in einem Land, in dem es quasi kein funktionierendes Steuersystem gibt, ist dies die einfachste Methode) und zum anderen die Ausgabenseite stärker zu regulieren (hierzu später mehr). Eine weitere Rolle spielen die anstehenden Wahlen: Die Regierung versucht mit dieser Politik Einnahmen für den Wahlkampf zu generieren (das mag für uns unverständlich klingen, weil bei uns Wahlkampf von Parteien finanziert wird – in Sierra Leone formal eigentlich auch, aber die Realität sieht leider anders aus).
  2.     Kein lokaler Reisanbau: Importierter Reis ist derzeit konkurrenzlos, weil aufgrund der Ebola-Epidemie die Reisfelder nicht bestellt worden sind. Das heißt, es gibt kaum lokal angebauten Reis auf sierra-leonischen Märkten. Der Preis für importierten Reis kann sich ungezügelt nach oben entwickeln. Die Hoffnung bleibt, dass die Reisernte im Jahr 2017 wieder besser ausfällt als in den vergangenen beiden Jahren.

 

Ein weiteres Indiz für höhere Einfuhrzölle auf importierte Produkte lässt sich mit der Entwicklung des Bierpreises belegen: Im November 2015 kostete ein Bier in einer ganz gewöhnlichen Straßenbar noch Le 7.000 (damals EUR 1,17). Heute kostet ein Bier Le 18.000 (EUR 2,37), nicht selten Le 20.000 (EUR 2,63) bis Le 25.000 (EUR 3,29). Dies mag für unsereiner schon ein sehr hoher Anstieg sein. Man stelle sich die Dimension als Sierra Leoner vor! Denn wohlgemerkt: Die Löhne und Gehälter sind im gleichem Zeitraum nicht gestiegen. Die Preise auf lokal gebrautes Bier zogen entsprechend nach. Dennoch ist eindeutig zu beobachten, dass in Sierra Leone inzwischen wesentlich mehr lokal gebrautes Bier getrunken wird als noch vor einem Jahr. Bleibt zu hoffen, dass dadurch wenigstens ein paar Arbeitsplätze geschaffen werden.

 

Die Liste lässt sich fast endlos fortsetzen. Ich möchte aber auf eine weitere gravierende politische Entscheidung Mitte 2016 eingehen. Diese betrifft den Treibstoffpreis. Benzin und Diesel kosten in Sierra Leone immer gleich. Beide Treibstoffe wurden von der sierra-leonischen Regierung extrem subventioniert, um die Transportpreise für öffentliche Verkehrsmittel sowie für Waren und Güter gering zu halten. Ein Liter kostete im Oktober 2016 noch Le 3.750 (EUR 0,50). Von einem Tag auf den anderen strich die Regierung die Subventionen. Heute kostet der Liter Le 6.000 (EUR 0,79). Das ist ein Anstieg von 60% – selbst in Deutschland bisher undenkbar. Die Auswirkungen in einem Land wie Sierra Leone (laut Human Development Index (HDI) auf Platz 183 von 187) mag man sich kaum vorstellen. Preise für öffentliche Verkehrsmittel wie Taxis, Busse und Poda-Podas (Kleinbusse) sind um 50% gestiegen. Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf Lebensmittel, die mit Lkws transportiert werden müssen. In Freetown haben Preise für lokal angebautes Obst und Gemüse deutsches Supermarktniveau erreicht – völlig absurd.

 

Dass die Regierung den Rotstift aber auch bei sich selbst anlegt, wurde im Oktober 2016 deutlich. In jenem Monat wurden allen Regierungsinstitutionen keine Gelder mehr bereitgestellt, um etwa Fahrzeuge und Büroausrüstung zu kaufen. Zuschüsse für Wartung und Instandhaltung von Bürogebäuden und Fahrzeugen wurden komplett gestrichen. Ebenso Überstundenvergütungen. Zuschüsse für Dienstreisen wurden um 50% gekürzt, genau wie Zuschüsse für Benzin und Diesel für Dienstwagen. Workshops und Seminare dürfen nur noch in Regierungsgebäuden abgehalten werden und nicht mehr in Hotels oder anderen kostenpflichtigen Einrichtungen. Auch hier lässt sich die Liste weiter fortsetzen. Doch die genannten Beispiele zeigen einmal mehr, wie ernst es der Regierung ist, den Haushalt zu regulieren (bzw. wie oben bereits geschrieben Gelder für den Wahlkampf zu generieren).

 

Ich möchte meine Darstellungen gar nicht weiter werten. Über die derzeitige sozio-ökonomische Lage in Sierra Leone dürfte sich anhand meiner Ausführungen jeder sein eigenes Bild machen können. Einher geht das Ganze mit einer erhöhten Kriminalitätsrate, v.a. Einbrüche, Diebstähle etc., sowie mit einem Aufblühen der jeher florierenden Korruption. Einen Ausblick in die Zukunft möchte ich nicht wagen. Aufkommende gewalttätige Studentenproteste sind im Oktober 2016 im Keim erstickt worden. Seitdem ist es ruhig geblieben. Die hohe Anzahl an ungebildeten, meist männlichen arbeitslosen Menschen macht einen Ausblick in die Zukunft schwierig. Derzeit „wurschtelt“ sich jeder noch so irgendwie durch, so mein Gefühl. Doch die Stimmung kann zu jedem Zeitpunkt kippen. Zu wünschen ist es dem Land und seinen fantastischen Menschen nicht. Derweil versuchen wir im sehr kleinen Rahmen, durch die Unterstützung des Waisenhauses mit seinen etwa 40 Kindern, einen kleinen Teil zur Verbesserung der Zukunftsaussichten Sierra Leones beizutragen.

 

 

 

 

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