Meine Fahrt zum Waisenhaus am 11. Juni 2011

 

(Bericht von Sebastian Wenz, veröffentlicht am 06. Oktober 2011)

 

Madina, die Heimat des Waisenhauses, liegt rund 225km von Freetown entfernt. Macht also etwa 450km Gesamtstrecke. Kein Problem, werden sich die meisten denken, doch in Sierra Leone ist eben vieles ein bisschen anders. Zwei Tage nach dieser Tortur möchte ich meine Reise zum Waisenhaus am 11. Juni 2011 zusammenfassend schildern.

 

Ich selbst arbeite momentan fast 300km von Freetown entfernt. Allerdings in entgegengesetzter Himmelsrichtung zum Waisenhaus. Da mir ein Freund in Freetown jedoch versprochen hat, mir für den Besuch am Waisenhaus ein Auto zur Verfügung zu stellen, entschloss ich mich kurzfristig, nach Freetown zu reisen, um von dort aus einen Tag später nach Madina zu fahren.

 

Noch am Abend meiner Ankunft in Freetown klärte ich ab, ob ich nun das Auto definitiv haben könne. Der Plan war, früh morgens nach Madina zu fahren, einige Stunden dort zu verbringen, und am Nachmittag wieder zurückzufahren. Der Halter des Fahrzeuges versicherte mir, dass ich das Auto sofort nach einer kurzen Routineuntersuchung am frühen Morgen haben könne. Ich organisierte also alles für die Fahrt.

 

Am folgenden Morgen dann die Ernüchterung: Das Auto hätte ein Problem mit dem Kühler und würde zudem zu viel Benzin verbrauchen. Ob ich nicht ein anderes Auto auftreiben könne. Da sich dieses Unterfangen jedoch als unmöglich erwies, und der Fahrzeughalter sein Versprechen nicht brechen wollte, stellte er sein Auto wiederum zur Verfügung. Es schien doch kein Problem vorzuliegen.

 

Froh über die Entscheidung packten wir das Auto voll mit diversen Dingen für das Waisenhaus und machten uns (insgesamt fünf Personen) um ca. 13 Uhr auf den Weg – viel zu spät für die Tatsache, dass man für eine Wegstrecke bei normalem Verlauf ca. 4 Stunden benötigt.

 

 

Die Chronik zu allen weiteren Ereignissen:

 

12:50 Uhr: Abfahrt in Freetown.

 

13:00 Uhr: Tanken an der Tankstelle. Ich schlage vor, 40l zu tanken. Dies ist das Resultat eines Vergleiches zu unserem Opel Frontera, mit dem wir bisher immer zum Waisenhaus gefahren sind. Der Fahrzeughalter erklärt mir, dass ich mit 40l nicht einmal bis Kambia komme. Ich gebe bei und lasse mich auf 50l fürs erste ein. Wir konnten ja auf dem Rückweg immer noch auftanken.

 

13:05 Uhr: Werkstatt. Wir lassen den kaputten Ersatzreifen reparieren, um auf Nummer Sicher zu gehen. Außerdem kaufen wir einen Kreuzschlüssel, um den Reifen im Fall der Fälle auch wechseln zu können. Wir sind bestens gerüstet.

 

13:25 Abfahrt von der Werkstatt.

 

14:10 Uhr: Der rechte Vorderreifen ist geplatzt! Der Reifenwechsel ist jedoch kein Problem. Nach nicht einmal einer halben Stunde geht es weiter.

 

14:40 Uhr: Im nächsten größeren Ort wollen wir den beschädigten Reifen reparieren lassen. Der Mechaniker verlangt einen unverschämt hohen Preis. Wir gehen Risiko und fahren zunächst weiter.

 

17:30 Uhr: Wir erreichen Kambia, die Hauptstadt des Distriktes Kambia, in dem auch unser Waisenhaus ist. Von hier sind es noch ca. 45km nach Madina. Wir lassen den Reifen reparieren. Diesmal zu einem anständigen Preis. Außerdem haben wir einen Termin mit dem Direktor des landwirtschaftlichen Ministeriums.

 

18:10 Uhr: Mit repariertem Ersatzrad machen uns auf den Weg nach Madina.

 

19:00 Uhr: Nur noch drei Kilometer bis nach Madina. Der Motor macht Geräusche die sich anhören wie Fehlzündungen. Peng, plump, bumm – der Motor geht aus und springt nicht mehr an. Wo liegt das Problem?

 

19:10 Uhr: Ein Taxi fährt an uns vorbei und hält schließlich an. Der Fahrer kennt sich mit Autos aus und bestätigt unsere Vermutung: Der Sprit ist alle!! Einer meiner Begleiter fährt mit dem Taxi nach Madina, um Benzin zu besorgen.

 

19:25 Uhr: Wir füllen das Auto mit 4l Benzin, um nach Madina zu kommen.

 

19:35 Uhr: Ankunft in Madina. Es ist schon dunkel. Wir fügen nochmals 6l hinzu. Das Benzin ist sehr teuer. Unsere Strategie: In Kambia tanken, weil dort der Sprit wesentlich günstiger ist. Übernachten kommt leider nicht in Frage, weil zwei meiner Begleiter am nächsten Tag arbeiten müssen. Es bleibt uns keine Wahl: Wir müssen den Besuch am Waisenhaus leider so kurz wie möglich halten, um so bald wie möglich wieder in Freetown zu sein. Schon jetzt war es viel zu spät geworden.

 

19:45 Uhr: Ankunft am Waisenhaus. Wie immer sehr herzlich und mit Freudeschreien der Kinder. Wir übergeben die Dinge, die wir mitgebracht haben, nehmen Abendessen zu uns und besprechen das Wichtigste.

 

21:45 Uhr: Wir brechen auf – nach gerade einmal zwei Stunden. Wir entschuldigen uns ausdrücklich bei den Kindern und bei der Familie Bangura.

 

22: 40 Uhr: Peng, plump, bumm – der Motor stirbt schon wieder ab – der Sprit ist alle. Wir befinden uns mitten im Wald. Es ist stockfinster und kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Wir schieben das Auto ca. 500m weit bis zur nächsten Senke und rollen in ein Dorf. Alle schliefen. Wir klopfen an einem Haus, wecken die Bewohner und fragen, ob es möglich sei, in diesem Dorf Benzin zu kaufen. „Eventuell weiter unten im Dorf“, heißt es. Wir rollen weiter. Im Dorf wird eine traditionelle, spirituelle Zeremonie abgehalten, die man besser nicht stört. Auf Anraten meiner sierra leonischen Freunde rollen wir weiter. Wir überqueren eine Brücke, die über einen Fluss führt. Allerdings geht es nach der Brücke wieder steil bergauf. Wir versuchen zu schieben. Keine Chance. Wir sind entkräftet. Wir warten.

 

23:30 Uhr: Ein Motorradfahrer kommt entlang des Weges und ist bereit, uns zu helfen. Einer von uns fährt auf dem Motorrad zurück zu dem Dorf, das wir passiert, jedoch nicht angehalten haben.

 

23:45 Uhr: Das Motorrad kommt zurück, jedoch ohne Benzin. Bleibt nur der Weg ins ca. 8km entfernte Kambia. Der Rest wartet weiter. Wir versuchen im Auto zu schlafen, doch die Moskitos zerstechen uns. Ich steige aus dem Auto aus, um ein Stück zu laufen und somit den Moskitos keine Chance zu lassen, sich auf mir nieder zu lassen. Diese Strategie funktioniert nur bedingt.

 

0:40 Uhr: Das Motorrad kommt zurück. Diesmal mit Sprit. Wir füllen nochmals 4l nach. Mehr war nach Aussage unseres Freundes nicht zu bekommen.

 

1:00 Uhr: Ankunft in Kambia. Die beiden Tankstellen sind natürlich schon geschlossen. Wir treffen auf betrunkene Motorradfahrer, die uns aus ihrem privaten Bestand Benzin anbieten. Zu einem hohen Preis natürlich, aber uns blieb nichts anderes übrig. Einer meiner Begleiter fährt auf einem Motorrad zu dem Haus, in dem das Benzin gelagert ist.

 

1:20 Uhr: Unser Freund kommt zurück – mit 10l Benzin. Das ist alles, was zu kriegen war. Wir füllen nach… Im nächsten Ort würden wir wieder Bewohner fragen müssen, die uns Benzin verkaufen. Unser Auto schluckt mehr Treibstoff als wir nachfüllen können.

 

1:30 Uhr: Abfahrt aus Kambia.

 

1:50 Uhr: Ankunft im nächsten größeren Ort. Wir haben Glück! An der Tankstelle gibt es eine Privatperson, die um diese Uhrzeit Teil seines privaten Bestandes an Autofahrer verkauft, die wie wir auf Benzin angewiesen sind. Wir füllen 3 Gallonen nach, was 13,5l entspricht. Wir dürften nun etwa 25l Benzin im Tank haben. Mit viel Glück und sehr sparsamer Fahrweise könnten wir es nach Freetown schaffen. Das Geld wird knapp.

 

2:00 Uhr: Trotzdem: frohen Mutes ziehen wir weiter!

 

2:25 Uhr: Der rechte Vorderreifen platzt schon wieder! Aber wir sind ja Geübt – Kleinigkeit. Von wegen! Eine der Schrauben will partout nicht aufgehen. Wir drücken, ziehen und zerren, aber die Schraube löst sich nicht. Stattdessen verbiegt sich der Kreuzschlüssel. Wir sind kurz vor dem aufgeben.

 

2:50 Uhr: Letzter Versuch. Unser stärkster Mann versucht es noch einmal mit aller Kraft. Da! Die Schraube löst sich! Geschafft. Wir wechseln den Reifen.

 

3:10 Uhr: Wir fahren weiter.

 

3:45 Uhr: Alle Insassen schlafen. Ich habe mit Übermüdung zu kämpfen. Ich träume von Hunden, die mir vor das Auto laufen, von Menschen, die mit ihren Körben auf den Köpfen die Straße überqueren und von kleinen Kindern, die auf der Straße spielen. Ich kann die verschiedenen Szenarien genau vor mir sehen.

 

4:30 Uhr: Die Träume werden schlimmer. Ich bin kurz vor dem Einnicken. Ich schüttle meinen Kopf und hänge ihn aus dem Fenster in den Fahrtwind. Ich kämpfe mit mir selbst und fahre weiter.

 

4:50 Uhr: Ich fahre fast in die Absperrung eines Polizeikontrollpunktes, weil ich die Fähnchen am über die Straße gespannten Seil mit den Hunden verwechsle, die ich immer wieder über die Straße laufen sehe, die aber ich Wirklichkeit nicht existieren. Ich lege eine Vollbremsung hin und komme noch vor dem Seil zum Stehen. Ich bin wieder hellwach – und alle anderen Insassen auch. Die Polizei lässt uns ohne Kontrolle weiterfahren.

 

5:20 Uhr: Die Schockstarre lässt nach und ich werde wieder unkonzentrierter. Doch mehr und mehr Autos kommen uns nun entgegen. Diese blenden so sehr, dass ich fast zum Stillstand kommen muss, wenn sie an mir vorbei fahren. Denn am rechten Straßenrand stehen immer wieder liegengebliebene und ungesicherte Autos und LKWs. Bei Gegenverkehr wären diese unmöglich zu sehen. Doch durch diese unstetige Fahrweise steigt meine Konzentration wieder.

 

5:50 Uhr: Wir erreichen Masiaka. Da die Tankleuchte schon wieder aufleuchtet, füllen wir nochmals Benzin nach. Wieder müssen wir zuerst eine Privatperson suchen. Es sind noch ca. 40km nach Freetown. Ich kann nicht mehr klar denken und lasse einfach nochmals zwei Gallonen (9l) nachfüllen. Dies sollte uns nach Freetown bringen.

 

6:00 Uhr: Wir machen uns auf das letzte Stück. Ich bin wieder etwas motiviert, weil ich mir sicher bin, dass wir ohne weitere Unterbrechung unser Ziel erreichen werden.

 

6:15 Uhr: Es wird langsam hell am Horizont…

 

6:35 Uhr: Die Sonne geht auf.

 

6:45 Uhr: Etwa 15km vor Freetown. Peng, plump, bumm – der Motor geht aus. Das Benzin ist schon wieder alle. Wir schicken einen von uns los, um Benzin zu holen. Das Geld geht mir langsam aus. Mit so einem hohen Verbrauch hatte ich wahrlich nicht gerechnet.

 

6:55 Uhr: Ich bin so erschöpft und nervlich am Ende, dass ich auf dem Lenkrad einschlafe, während wir auf mehr Benzin warten.

 

7:20 Uhr: Es gibt nochmals 3l Nachschub. Das MUSS jetzt reichen.

 

7:40 Uhr: Wir erreichen Freetown. Doch dann geschieht folgendes: Peng, plump, bumm- der Motor geht schon wieder aus! Glücklicherweise stehen wir gerade an einer Tankstelle und können uns gerade noch dort hin rollen lassen. Ich bin verzweifelt und total erschöpft. Mit dem allerletzen Geld, das wir alle gemeinsam noch zusammenkratzen können, kaufe ich nochmals eine Gallone (4,5l) Benzin.

 

8:00 Uhr: Wir kommen zu Hause an. Völlig erledigt kenne ich nichts anderes mehr als mein Bett. Ich falle in einen tiefen Schlaf bis in den Nachmittag hinein.

 

 

zurück